Zwei Familien touren mit Zelt und Rad durch Brandenburg und Sachsen. Die drei Kinder mit 4, 5 und 7 Jahren radeln selbst. Das Baby ruht im Anhänger… Karen Rike erzählt die Geschichte von einer ziemlich spontanen Kidical Mass Sommer-Edition…

Es ist Juni. Auf Arbeit habe ich spät aber doch den Sommerurlaub offiziell eingereicht – synchron zur Kitaschließzeit. Zuhause klebe ich am Familienwandkalender blaue Pünktchen in eine Reihe. Damit markiere ich jeden Ferientag mit einem Punkt. Und stelle fest: So viele Pünktchen! So viele Tage die da vor mir und meiner Tochter liegen. Pläne? Keine. Träume? Viele!

Radreiseträume

Die folgenden Abende verbringe ich vor dem Notebook. Klicke mich durch die Unendlichkeit der Möglichkeiten im Pandemiekostüm. Etwa 10 Tage später präsentiere ich meinem Partner das Ergebnis. Da wir uns die Sommerferien so gut es geht paritätisch aufteilen, muss es an bestimmten Schnittstellen für uns beide funktionieren.

  • Tour: Die 200 km lange Radtour führt uns von der Oberlausitz / Sachsen nach Eberswalde / Brandenburg bzw. nach Hause. Das hat praktische Gründe: In der Oberlausitz übernehme ich die Copilotin nach dem Papa-Tochter-Urlaub. Ich komme nämlich mit dem Zug von meinem 2-wöchigen Auslandsprojekt zurück. Die Oberlausitz liegt auf der Strecke!
  • Etappen: Die Tour teile ich in sieben Etappen zwischen 65 und 15 km Länge. Alle zwei bis drei Tage wird geradelt. Berlin wird mit dem Zug durchquert.
  • Räder: Wir können uns ein Cargo-Tandem mit Elektroantrieb ausleihen! Bei dem Rad kann meine Tochter wahlweise mit pedalieren oder pausieren.
  • Unterkunft: An zwei Stationen buche ich fixe Unterkünfte, sonst wird gezeltet. Die Campingplätze werden reserviert. Pflichtprogramm: Ponyreiten und Paddeltour im Spreewald!
  • Ausstattung: Für die Copilotin gilt nach vier Jahren immer noch die Baby-Radreise-Packregel: Drei Garnituren von Allem, ein warmer Pyjama, ein Paar Gummistiefel.
  • Glamping Zuckerl: Die Bluetooth-Box mit offline Playlist für die Radpartie kommt in die Lenkertasche. Die darf nie fehlen!
  • Navigation: Offlinekarten der geplanten Tour werden auf dem Smartphone installiert.

Das Packen geht schnell. Trotzdem dauert es in Summe mehrere Stunden bis alles organisiert, ausgeliehen bzw. am Rad verstaut ist. Das Zwei-Personen-Leih-Zelt kommt zum Beispiel kurz vor Abreise per Post. Mein Bike-Packing-Wunschzelt hängt auf einem der Weltmeere fest…

 

Fear / Flow / Familien-Doppel

Beim Vorbeigehen am Wandkalender mit den Klebepunkten verwandeln sich die blauen Pünktchen in Vorfreudesprudel. Ein bisschen Angst ist da auch. Nicht wegen der Radtour. Die Sache mit „Mama zwei Wochen allein mit Tochter“ macht mir zu schaffen. Hohes Konfliktpotenzial! Nicht nur Leute, die bereits eine Radreise im Duett gemacht haben, wissen wovon ich spreche… Und so genau weiß ich nicht wie es kam… Nach einem beruflichen Telefonat mit Steffen, dem Co-Initiator von „Kinder aufs Rad“ / Kidical Mass schien es, als hätten wir ganz viel Reisebegleitung!

Er und seine Partnerin Simone aus Köln gefiel die Idee. Sie spielten mit dem Gedanken mitzukommen. Einerseits haben sie Familien-Radreise-Praxis und andererseits Zeit und diesen Sommer noch nix vor: Simone ist in Elternzeit. Der jüngste Copilot ist zwei Monate alt. Steffen arbeitet von überall aus und ist voll Tatendrang. So ganz glaube ich trotzdem nicht daran, dass sie mitkommen…


Check In

…bis wir uns Mitte Juli ein bisschen bekannt und zugleich ein bisschen fremd gegenüberstehen. Auf dem Naturcampingplatz an der Olba in Sachsen – einer ehemaligen Lehmgrube in der Oberlausitzer Tagebauregion, ist absolut gar nix los. Wir „Großen“ teilen beim Zeltaufbau unsere äußerst abenteuerlichen Anreise-Geschichten mit Bahn/Rad/Kind. Diese sind nicht nur in Zeiten von Hochwasser filmreif. Die „Kleinen“ hauen ab. Sie erkunden den mittlerweile fast finsteren Campingplatz.

Im Gepäck haben Simone und Steffen ein 16-Zoll-Kinderfahrrad für meine Tochter. „Dann können die Kids besser gemeinsam radeln!“ freuen sie sich.

Unser Urlaub beginnt!


Grauer Beton + blaue Beeren:
Hier kommt die nächste #Fahrradgeneration

Die nächsten zwei Wochen folgen wir dem Reiseplan und gleiten mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 11 km/h durch Kiefernwälder, Alleen, Felder – immer der Spree entlang. Die Kinder radeln. Und wie!

Etappe 1: 26 Kilometer!  Etappe 2: 15 Kilometer!  Etappe 3: 36 Kilometer! Wow!

Der Siebenjährige und die Fünfjährige haben solide Kinderräder mit Gängen, Gepäckträger und Packtaschen. Die Vierjährige mimt am 16-Zoll-Eingang-Fahrrad die singende Nähmaschine – ohne Gepäck. Der kleinste Copilot ruht während der Fahrt in der Babyhängematte des Fahrrad-Kinderanhängers. Der Hänger wurde für die Tour ebenfalls ausgeliehen.

Das Pausenprogramm abseits der Straße besteht aus Pommes, Plantschen, Poposchütteln! Wir sitzen oft viele Stunden im Radsattel. Zu meiner Überraschung ist kein Kinder-Abschleppen mittels Hilfswerkzeugen notwendig!

Während der Fahrt reimen, singen, streiten wir und überlegen uns lustige Spiele. Wir folgen mit Freude dem kleinen Teuferl (Tagebauradweg) oder der fetzigen grünen Gurke (Spreewaldradweg), schieben am Seeadlerradweg die Räder über sandige Dünen mit Mückeninvasion (demoralisierend), genießen soweit möglich das DDR-Betonplattenweg-Pavé und lauschen dem Förster im Blaubeerwald. Er erzählt uns von den Wölfen die durch diese Gegend streifen.

Der Weg ist das Ziel.  Time is now. Und sowieso: Es ist Sooooommer!


Tempo + Distanzen:
Das selbst fahrende Kind

Mehr als 40 km pro Tag am Rad sind nicht drin wenn die Kinder selber radeln. Kinder lassen sich nämlich nicht einfach so „beschleunigen“. Es geht so schnell voran, wie es voran geht. Auch für  uns „Große“ sind mehr als 40 km mit selbst fahrenden Kindern zu viel, wenn nach der Radtour noch Futter-Orga und Zelt-Aufbau am Programm stehen.

So kommt es, dass die Copilotin und ich die Etappen mit mehr als 35 km mit dem E-Cargo-Tandem ohne die anderen zurücklegen. Steffen, Simone und die Kinder überbrücken bzw. verkürzen diese Strecken mit der Bahn. (Zufälligerweise verläuft die geplante Tour entlang einer Bahnlinie.)


Moderne Mobilität vs. Familientaugliche Mobilität

Was sich die Familie dabei an körperlicher Anstrengung spart, kommt als mentale Herausforderung zurück: Nicht-barrierefreie Bahnhöfe. Defekte oder kleine Aufzüge. Zugtüren die nach wenigen Sekunden automatisch zugehen und Anhänger einzwicken. Willkürliche Auslegung der Beförderungsbedingungen des Personals mit größerer Lust auf Reibung statt Dienstleistungsinteresse.

Überall dort wo Familien mit Kindern auf Strukturen stoßen, die landläufig mit „moderner“ Mobilität assoziiert werden, wird es für Familien oft erst recht kompliziert…

Zum Beispiel führen uns die ausgeschilderten, touristischen Radrouten manchmal etappenweise über Landstraßen oder durch abgelegene Dörfer – ohne Radinfrastruktur.

Und es gibt Personen hinter Windschutzscheiben, die nicht damit rechnen, dass Familien mit kleinen Kindern Fahrrad fahren. Und obendrein – so meine Interpretation – unsere Freude am und Ängste beim Radfahren nicht teilen. Diese Personen reduzieren das Tempo ihres Fahrzeuges nicht. Sie halten sich auch nicht an den Mindestüberholabstand von 1,5 m. Wir etablieren in diesen Situationen eine Fahrpraxis, die eine maximale Fehlertoleranz aller Beteiligten herausholt. Freundlich winkend bedanken wir uns…


Kinder entdecken die Welt:
Aus eigenem Antrieb. Mit eigenem Antrieb! 

Auf der anderen Seite begegnen uns viele freundliche und interessierte Gesichter. Meist sind es ältere Leute, die wissen wollen was wir da tun auf den Rädern. Wohin? Wie lang? Wie schön! Sie freuen sich (mit uns), dass unsere Kinder mitten drin sind im Abenteuer – nicht nur dabei. Sie entdecken die Welt – mit eigenem Antrieb und mit Fahrtwind im Haar. Straßen sind (eigentlich) keine Gefahr. Straßen verbinden! Wann und wo und wie ist uns diese Qualität verloren gegangen?

Am Ende der Tour ist aus der Internet-Berufs-Bekanntschaft der „Großen“ eine dicke Freundschaft gewachsen: Zwei Wochen Clanleben – war das schön! Mit allen Qualitäten und gegenseitiger Entlastung. Die „Kids“ liebten wie zankten sich.

Beim Abschied fließen dicke Tränen.

Wir könnten ewig gemeinsam weiter radeln!

Oder einfach nächsten Sommer weitermachen?

 

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Hase Pino Über die Autorin. Karen Rike lebt mit ihrer Familie in Eberswalde/Brandenburg. Sie reist bzw. radelt mit ihrer Tochter überall dort herum, wo sie mit Zug und Rad hinkommt und engagiert sich für die Verkehrswende: beruflich bei cargobike.jetzt, privat als Fahrradbotschafterin, ehrenamtlich als Co-Initiatorin der Kidical Mass Eberswalde sowie als Co-Initiatorin und Kurierin des lokalen Lastenrad-Lieferservice.

Alle Fotos © Karen Rike Greiderer